Ist die NATO alternativlos?

OSZE – eine Alternative zur NATO? – erschienen in Wissenschaft und Frieden 1/2019
Nahezu dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges herrscht in Europa erneut ein Kalter Krieg – so oder so ähnlich lauten die Äußerungen aus Politik, Medien und Wissenschaft. Dabei reicht das Einschätzungsspektrum von „(noch) kein Kalter Krieg“[i] bis hin zu „Kaltem Krieg“[ii].
Ich habe den Eindruck, der Kalte Krieg hat nie wirklich aufgehört, sondern hat in den neunziger Jahren nur an Wahrnehmbarkeit verloren.
Der Grundwiderspruch existierte fort: Die Machtfrage um Einflussräume zwischen den Großmächten und den dahinterstehenden ökonomischen Interessen.
Auch der Kalte Krieg war nie nur ein Systemkonflikt, sondern auch ein geopolitischer und -ökonomischer um Einflusssphären jenseits der ideologischen Systemfrage. Mit der ‚Niederlage‘ der Sowjetunion und ihrem anschließenden staatlichen Zerfall war die Machtfrage zunächst zu Gunsten der USA und deren Verbündeten geklärt. Russland als Rechtsnachfolgestaat der UdSSR spielte in der Weltpolitik der 1990er Jahre keine Rolle mehr. Ehemalige Verbündete wechselten in das westliche Lager. Selbst frühere sowjetische Unionsrepubliken befinden sich bereits im Einflussbereich der USA bzw. der NATO und EU oder streben dorthin. Die von US-Präsident Bush sen. ausgerufene „Neue Weltordnung“[iii] war nichts anderes als eine US-Weltordnung. Und zwar eine Weltordnung mit einem einzigen Machtpol: dem sogenannten Westen, bestehend aus den USA und ihren Verbündeten oder auch „Vasallen“, wie Brzezinski sie in seinem bekannten Werk[iv] bezeichnete. Ob der Westen tatsächlich der sowjetischen Führung seinerzeit versprochen hatte, die NATO nicht über die Grenzen des wiedervereinigten Deutschlands zu erweitern[v], oder ob dies dem Wunschdenken Moskaus entspringt[vi], ist nach wie vor umstritten. Tatsache ist, dass der Westen die Gunst der Stunde zur Expansion seiner Einflussräume genutzt hat, statt auf Ausgleich und gemeinsame Sicherheit im KSZE/OSZE-Raum zu setzen.
Epochenwandel – multipolar statt unipolar
Erst mit dem Wiedererstarken Russlands und dem Machtzuwachs Chinas kommt der Grundwiderspruch um Einflussräume wieder zum Vorschein. In gewissem Maße sind in der nun neuen, zwar noch nicht final ausgeformten, aber in Ansätzen erkennbaren multipolaren Weltordnung Ähnlichkeiten zum Vorabend des Ersten Weltkrieges erkennbar: Seinerzeit war die Welt zwischen den Kolonialmächten aufgeteilt. Deutschland als Nachzügler wollte seinen Anteil, der aber zu Lasten der übrigen Kolonialmächte gegangen wäre. Dieser geopolitische und geo-ökonomische Konflikt ist der Grund für den Ersten Weltkrieg, nicht die Schüsse von Sarajevo.
Multipolare Weltordnung
Das Wesen einer multipolaren Weltordnung besteht darin, die nahezu uneingeschränkte Handlungs-/Gestaltungsfreiheit eines Akteurs oder einer Akteursgruppe durch andere, wachsende Kraftzentren zunehmend zu begrenzen, zurückzudrängen und Einfluss- und Gestaltungsräume neu aufzuteilen. Und genau in diesem Epochenbruch befindet sich die Weltpolitik. Aussagen wie jene, die Welt sei „aus den Fugen“, stehen für diesen Epochenbruch. Das Alte ist vergangen, das Neue aber noch nicht etabliert, allenfalls in Konturen sichtbar. Diese Übergangsphasen sind besonders konfliktgeladen, da der herausgeforderte Akteur seinen Machteinfluss nicht räumen will und der oder die herausfordernden Akteure den Status quo nicht weiter akzeptieren wollen: War die Zerschlagung Jugoslawiens und die Westintegration einiger post-jugoslawischer Republiken für den Westen nach dem Ende der Blockkonfrontation in den neunziger Jahren ein risikoarmes geo-politisches Unterfangen, so stoßen weitergehende raumgreifende Ambitionen des Westens zunehmend auf auch militärischen Widerstand Russlands.
Der Krieg zwischen Georgien und Russland im Jahre 2008 war der erste Abwehrkrieg gegen die Ausdehnung der westlichen Einflusssphären im post-sowjetischen Raum. Der 2014 vom Westen in der Ukraine beförderte Putsch (um das Land in den euro-atlantischen Einflussraum zu integrieren), die darauf folgende Sezession der Krim und ihre völkerrechtswidrige Integration in die Russische Föderation, der Krieg in der Ost-Ukraine sowie der Syrien-Krieg sind reale Ausdrucksformen dieses geo-politischen und geo-ökonomischen Machtkampfes. Noch befindet sich Russland in diesem Konflikt in der Defensivposition, d.h. es verteidigt seine noch verbliebenen Einflussregionen auch mit militärischen Mitteln, wo es möglich ist. Im post-jugoslawischen Raum ist die Machtfrage weitgehend geklärt: Die politischen Verhältnisse wurden bereits in den 1990er Jahren so verändert, dass der Beitritt der übrigen post-jugoslawischen Republiken in die sogenannten euro-atlantischen Strukturen mit Ausnahme Serbiens nur noch eine formale Frage ist. Montenegro trat 2017 der NATO bei, und der Beitritt Makedoniens wird vollzogen werden, sobald der Namensstreit um Makedonien zwischen diesem Staat und Griechenland – nicht ohne massive Einflussnahme aus Washington und Brüssel – gelöst zu sein scheint. Der westliche Druck auf Serbien, einem traditionellen Verbündeten Russlands, der NATO beizutreten, ist erheblich.
Diese expansive Raumpolitik des Westens ist unter politikwissenschaftlichem Gesichtspunkt mit der Theorie des „Neorealismus“ nicht zu erklären, da erstens internationale (Regierungs-) Organisationen wie die UNO oder die OSZE existieren, deren Aufgabe es ist bzw. sein sollte, Staatensicherheit zu gewährleisten; wobei der Westen genau diese Institutionen jedoch durch seine rechtswidrigen Interventionskriege und andere rechtsnihilistische Maßnahmen selbst torpediert. Und zweitens: Die Sicherheit des Westens ist mitnichten bedroht – auch nicht durch Russland. Im konventionellen Bereich ist die NATO der Russischen Föderation um ein vielfaches überlegen: Russland verfügt quantitativ noch qualitativ nicht über die konventionell-militärischen Fähigkeiten sowie den finanziellen und ökonomischen Ressourcen. Auch, und das räumt die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage seitens der Linksfraktion ein, liegen ihr „ keine Erkenntnisse vor“, dass Russland die Absicht hätte, die NATO bzw. die östlichen NATO-Staaten anzugreifen.[vii] Das westliche Expansionsstreben ist entweder mit der Denkschule des „Realismus“ zu erklären: Machtakkumulation, die sich durch geo-politisches Raumgreifen artikuliert. Oder aber mit der umfassenderen Imperialismustheorie Lenins, die auch die innenpolitischen Aspekte, aber vor allem ökonomischen Interessen als Triebkraft außen- und sicherheitspolitischer Entscheidungen betrachtet[viii], womit auch das geo-ökonomische Expansionsinteresse der NATO und EU erklärt werden kann.
Sicherheitspolitische Alternativen denkbar und realistisch?
Das „Gemeinsame Haus Europa“ war nicht unrealistisch und ist es auch heute nicht, wenn auch die Bedingungen dafür derzeit sehr viel schwieriger sind. Die mit dem Ende des Kalten Krieges ausgehende Aufbruchsstimmung für eine neue friedliche und gerechte Weltordnung existierte, fiel aber in der westlichen Politik nicht auf fruchtbaren Boden. In der jetzigen Phase des Epochenwandels sind einerseits die Fronten derart verhärtet, dass ein Paradigmenwechsel außen- und sicherheitspolitischer Vorstellungen wenig realistisch ist. Andererseits scheint der Westen als ein mehr oder minder homogener Block auseinanderzubrechen. Es ist derzeit nicht klar, ob es in der multipolaren Welt den einen westlichen Pol noch geben oder nicht mindestens zwei Pole im Westen geben wird – die USA und die EU. Letzteres Entwicklungsszenario könnte neue Chancen eines Umdenkens eröffnen. Bliebe die Frage, ob die führenden EU-Staaten bereit wären, ein neues Konzept von ‚Europa‘ zu entwickeln – mit Russland. In diesem Falle wäre die OSZE das bereits bestehende und sinnvolle Format.
Die OSZE ist die einzige Organisation, die nach ihrer Gründungsidee gemeinsame Sicherheit für alle Mitglieder anstrebt und nicht Sicherheit auf Kosten anderer erlangen will. Sie stellt eine friedenspolitische Alternative zur NATO dar, die ihrerseits aus Gründen der Rechtfertigung ihrer eigenen Existenz auf das Vorhandensein äußerer Gegner angewiesen ist.
In der OSZE existieren politische Verhaltensprinzipien für die Gewährleistung von Frieden und Sicherheit. Es gilt das Prinzip der Gleichberechtigung und des Konsenses unter den Mitgliedern.[ix] Gegenseitige und kollektive Sicherheit, Abrüstung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit sind friedensdienliche Maßnahmen. Konfrontationsdenken, Hochrüstung sowie Großmanöver erzeugen Unsicherheit und zerstören Vertrauen. Es ist höchste Zeit, über reale Alternativen zur NATO nachzudenken.
Austritt aus der NATO?
Der Austritt aus den militärischen Strukturen der NATO ist für die perspektivische Auflösung der NATO der aussichtsreichere Weg als der Komplettaustritt. Der Austritt Deutschlands als ein maßgeblicher europäischer und NATO-Akteur hätte deutliche Auswirkungen auf den Zusammenhalt und den Fortbestand des Militärbündnisses. Auch andere Staaten wie Frankreich und Spanien waren in der Vergangenheit zeitweilig Nicht-Mitglieder in den militärischen Strukturen, ohne dass sich die NATO als Ganzes aufgelöst hätte. Damals herrschte indes der Kalte Krieg, der auf die übrigen NATO-Mitglieder ‚disziplinierend‘ wirkte. In der aktuellen Übergangsphase von einer uni- zu einer multipolaren Weltordnung ist die ‚Selbstdisziplin‘ dagegen schwächer ausgeprägt. Die NATO-Mitgliedsstaaten formulieren ihre nationalen Interessen selbstbewusster. 2003 verweigerten sich Deutschland und Frankreich nicht nur einer aktiven Teilnahme am Krieg der USA gegen den Irak, sondern Frankreich hat auch sein Veto in der NATO angedroht. Und genau dies ist der Ansatz für einen neuen Modus: Austritt aus den militärischen, aber Verbleib in den politischen Strukturen der NATO.
Der Verbleib in den politischen Strukturen der NATO muss dafür genutzt werden, um die Militärallianz bis zu ihrer endgültigen Auflösung durch den Einsatz von Vetos handlungsunfähig zu machen. Die zentrale politische Entscheidungsinstanz ist der NATO-Rat. Seine Entscheidungen müssen im Konsens getroffen werden. Falls ein Mitglied dort sein Veto einlegt, kommt keine Entscheidung zustande.
Damit ließen sich zum Beispiel verhindern:
- die Verabschiedung neuer Strategischer Konzepte (Ausdehnung des Aufgabenspektrums)
- Beschlüsse für Militärinterventionen und Kriege sowie
- Beschlüsse für die Aufnahme von neuen Mitgliedern.
Aus den militärischen Strukturen der NATO auszutreten und gleichzeitig ihre politischen Strukturen dafür zu nutzen, um die militärische Aufrüstung und Militärinterventionen zu verhindern, würde den Frieden in der Welt stärken und die Durchsetzung einer zivilen Sicherheitsstrategie erleichtern. Es gäbe bessere Chancen, die vorhandenen zivilen Sicherheitsstrukturen der OSZE auszubauen und zu einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit weiter zu entwickeln. Die NATO könnte auf diese Weise von innen erodieren. Dieser Prozess sollte komplementär verlaufen, d.h. parallel zum faktischen Abbau der NATO muss der Auf- und Ausbau der OSZE erfolgen, um den Eintritt eines Sicherheitsvakuums in Europa zu verhindern.[1]
[1] „Sicherheit statt Konfrontation – OSZE stärken, NATO auflösen“ – Broschüre der Bundestagsfraktion DIE LINKE, 2015 – http://neu-alexander.de/bro_sicherheit_statt_konfrontation/ (abgerufen 26.10.2018).
[i] „Das ist kein neuer Kalter Krieg“ –
Fünf Fragen an den französischen Außenminister a.D. Hubert Védrine. In: Internantionale Politik und Gesellschaft, 21.03.2014, online verfügbar unter:
https://www.ipg-journal.de/interviews/artikel/das-ist-kein-neuer-kalter-krieg-318/ (abgerufen 26.10.2018).
[ii] Medwedew kritisiert NATO und EU – „Wir sind in einem neuen Kalten Krieg“, tagesschau.de, 13.02.2016, online verfügbar unter: https://www.tagesschau.de/inland/sicherheitskonferenz-medwedew-101.html (abgerufen 26.10.2018).
[iii] Czempiel, Ernst-Otto, „Die amerikanische Weltordnung“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 42/2002, online verfügbar unter: http://www.bpb.de/apuz/26586/die-amerikanische-weltordnung (abgerufen 26.10.2018).
[iv] Brzezinski, Zbigniew, Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt a.M., 4. Auflg. 2001, beispielsweise S. 41.
[v] Video „Abmachung 1990: ‚Keine Osterweiterung der NATO‘ — Außenminister Genscher & Baker“, online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=JXcWVTpQF3k (abgerufen 26.10.2018).
[vi] Video „Genscher widerspricht Behauptung vom Versprechen an Russland, die NATO nicht nach Osten zu erweitern“, online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=aG_EU5XWJn4 (abgerufen 26.10.2018).
[vii] “The Military Balance 2018“, Hrsg.: International Institute for Strategic Studies (IISS), online verfügbar unter: https://www.iiss.org/publications/the-military-balance/the-military-balance-2018 (abgerufen 26.10.2018).
Deutscher Bundestag – Drucksache 19/4758, 19. Wahlperiode, 05.10.2018, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Andrej Hunko, Dr. André Hahn, Dr. Alexander S. Neu, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 19/3881 – „Perspektiven eines künftigen gesamteuropäischen Raums von Lissabon bis Wladiwostok“
[viii] Lenin, Wladimir Iljitsch: Der Imperialismus als höchstes Stadium der Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriss (1917 u. ö.), Kritische Neuausgabe Berlin 2016.
[ix] Antrag „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und Europäische Friedensordnung“ der Abgeordneten Andrea Gysi […] und der Gruppe der (PDS), Bundestagsdrucksache 13/5800, online verfügbar unter: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/13/058/1305800.pdf (abgerufen 26.10.2018).