NATO: Auflösung ist einfacher als Transformation – Gastbeitrag Welttrends Oktober 2017

Die von Wolfram Wallraf ausgearbeitete Abhandlung über das Verhältnis der Partei DIE LINKE zur NATO macht eine Reaktion erforderlich:
Wer der Partei DIE LINKE vorwirft, den „Ausstieg aus der NATO als Ziel im politischen Wettbewerb“ zu fordern und diese Ausstiegsforderung auf einen „hochtrabenden propagandistischen Anspruch“ zu reduzieren, der reduziert die außen- und sicherheitspolitischen Konzeptionen der Partei auf reine Wahlkampftaktik.
Aber um Wahlkampftaktik geht es eben nicht. DIE LINKE vertritt aus friedens- und sicherheitspolitischer Überzeugung die Position, dass die NATO aufgelöst und durch ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit in Europa ersetzt werden muss. Der Austritt aus den militärischen Strukturen der NATO hierbei stellt einen zentralen Zwischenschritt dar.
Dieser von der LINKEN verfolgte Weg zur Auflösung der NATO und Ersetzung durch ein Sicherheitskollektiv – auch zwecks Vermeidung eines sicherheitspolitischen Vakuums in Europa – unterscheidet sich signifikant von der strukturimmanenten Vorgehensweise Wallrafs‘:
Das Wallraf‘sche Konzept basiert auf der Transformation der NATO. Seine Vorschläge, was Deutschland in der NATO im Rahmen der Transformation alles tun könnte (beispielsweise Beendigung einer russophoben Bedrohungsanalyse), kann und muss Deutschland sogar auch in der Übergangsphase der NATO (Austritt aus den militärischen Strukturen Deutschlands bis zur endgültigen Selbstauflösung des Militärbündnisses) verfolgen.
Der Unterschied zur LINKEN Konzeption besteht eben darin, dass diese von Deutschland zu initiierenden Maßnahmen bei Wallraff darauf hinauslaufen, die NATO wieder zu einem reinen Verteidigungsbündnis zu re-reformieren und mit der Russischen Föderation einen friedlichen Modus Vivendi auszuhandeln. Europa bliebe aber so in drei Klassen gespalten: In NATO-Mitglieder, nicht-NATO-Mitglieder, die sich in einem sicherheitspolitischen Vakuum befänden, und in – von der Russischen Föderation geführt – OVKS-Mitglieder. Diese geopolitische und geo-ökonomische Teilung Europas provoziert jedoch geradezu ihre Überwindung durch geo-politische Machtkämpfe um die „Vakuum“-Staaten.
DIE LINKE hingegen fordert – zumal in einer Zeit des Umbruchs in der internationalen Politik – eine alte Friedenskonzeption neu aufzulegen, da nur diese ungeteilte Sicherheit ermöglicht: Das System gegenseitiger kollektiver Sicherheit.
NATO: Auflösung ist einfacher als Transformation – Austritt aus den militärischen Strukturen ist eine Voraussetzung
Wie ist die Auflösung der NATO anhand welcher konkreten politischen Maßnahmen zu erreichen? Diese Frage ist eine zentrale Frage für DIE LINKE., da hiervon auch die friedenspolitische Glaubwürdigkeit unserer Partei abhängt.
Der Austritt aus deren militärischen Strukturen der NATO ist eine zentrale Maßnahme um den Militärpakt zu erschüttern. Dass ein Austritt möglich ist, hat die Geschichte bewiesen:
Am 21. Februar 1966 schaffte der französische Präsident Charles de Gaulle einen Präzedenzfall, indem er den Austritt Frankreichs aus den militärischen Strukturen der NATO erklärte. Der Schritt hatte den Abzug der französischen Vertreter aus den NATO-Stäben, die Beendigung der Unterstellung der französischen Truppen unter das NATO-Kommando sowie den Abzug des NATO-Hauptquartiers aus Frankreich zur Folge.
Der Schritt führte jedoch keineswegs zu einer politischen Marginalisierung des westeuropäischen Landes: Da Frankreich weiterhin politisches Mitglied der Militärallianz war, konnte das Land nämlich auch außerhalb der militärischen Struktur an der politischen Konzeption der Strategie dieses Bündnisses mitwirken. Trotz alledem stürzte die neue internationale Lage durch den Austritt aus den militärischen Strukturen das nordatlantische Militärbündnis in eine ernsthafte Krise.[1]
Der militärische Austritt Frankreichs aus der NATO sollte nicht der einzige in der Geschichte des Militärpaktes bleiben:
Als 1974 eine türkische Invasion auf der mehrheitlich von ethnischen Griechen bewohnten Insel Zypern drohte, kündigte die griechische Regierung von Konstantinos Karamanlis (im Amt 1974 – 1980) an, ebenso aus den militärischen Strukturen der NATO auszutreten.[2] Griechenland positionierte sich sogar in dieser Zeit auf besondere Weise zwischen den Blöcken, indem sowjetischen Kriegsschiffen gestattet wurde, griechische Häfen zu nutzen.[3] Auch am anderen Ende des Mittelmeeres lief die NATO-Integration anders ab als von einigen Washingtoner Politikern und Strategen erhofft und gedacht. Nachdem im Mai 1982 Spanien unter einer konservativen Regierung der NATO beigetreten war, beschloss die folgende sozialdemokratische Regierung unter Felipe González (im Amt 1982 – 1996), ein Referendum über den Status der NATO-Mitgliedschaft abzuhalten. Die Mehrheit der abgegebenen Stimmen sorgte dafür, dass Spanien zwar politisch Mitglied der NATO bleiben solle, jedoch nicht militärisch.[4]/[5]
All diese Beispiele zeigen, dass ein Austritt aus den militärischen Strukturen ein durchsetzbarer Schritt ist. Zum militärischen Austritt gehört auch der Abzug der US- Atomwaffen sowie aller ausländischen Streitkräfte aus Deutschland.
Auch das wäre nichts ungewöhnliches, schließlich beharrte die griechische Regierung des Sozialdemokraten Andreas Papandreou (1981 – 1989) auf der Forderung des Abzuges der US-Atomwaffen aus seinem Land.[6] De Gaulle hatte 1959 auch darauf bestanden, dass alle alliierten Atomwaffen aus Frankreich abgezogen werden sollten.[7]
Der Umsetzung des Austritts aus den militärischen NATO-Strukturen und des Abzugs der US-Truppen aus Deutschland – derzeit etwa 45.000 Soldatinnen und Soldaten – sind rechtliche Vorgaben, die auch zeitliche Fristen beinhalten, gesetzt.
Unmöglich wird das Vorhaben dadurch aber nicht:
Die Präsenz der Truppen der USA in Deutschland muss durch Kündigung des Aufenthaltsvertrages von 1954, des NATO-Truppenstatutes (NTS) von 1951 sowie des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut (ZA-NTS) von 1959 formalrechtlich beendet werden.
Wie im Notenwechsel der deutschen und der US-amerikanischen Regierung nach dem Beitritt der DDR zur BRD vom 25. September und 16. November 1990 vereinbart, beinhaltet die Kündigung der Verträge eine Frist von zwei Jahren zu deren Umsetzung.[8]
Im Laufe einer Legislaturperiode des Deutschen Bundestages ist somit ein Abzug der US-Truppen aus Deutschland möglich und durchaus realisierbar.
Die Gelder, die durch die ausbleibenden Manöverschäden gespart würden, könnten dann in die Konversion fließen.
NATO: Auflösung ist einfacher als Transformation – Temporärer Verbleib in den politischen Entscheidungsstrukturen
Auch nach einem militärischen Austritt aus dem Bündnis könnte die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik in die Strukturen und Entscheidungen der NATO weiterhin entscheidend hineinwirken:
Das höchste politische Gremium der Organisation ist der Nordatlantikrat (North Atlantic Council, NAC). Der NATO-Rat beschließt im Konsens alle wichtigen politischen und strukturellen Entscheidungen. In dem Gremium gilt das Prinzip der Einstimmigkeit, was jedem einzelnen Mitglied ein Vetorecht einräumt.[9]
Kehrseite des Konsens- und Vetomechanismus ist aber auch, dass es das Konsensprinzip erlaubt, dass ein einziges Mitgliedsland eine Perspektive zur Transformation der NATO hin zu einem grundsätzlich friedlichen Bündnis blockieren kann. Ansätze in diese Richtung würden höchstwahrscheinlich von atlantizistischen Regierungen von Mitgliedsstaaten wie Großbritannien, Dänemark[10] und einigen osteuropäischen Mitgliedern[11] blockiert werden.
Eine wie auch immer geartete Transformation der NATO wird in den nächsten Jahrzehnten mit diversen Regierungen einiger Mitgliedsländer nicht erreichbar sein, was auch das Transformationskonzept von Wallraf unrealistisch macht.
Daher: Die einzige Perspektive, die für eine fortschrittliche NATO-Politik bleibt, lautet daher Blockade:
In allen Gremien der NATO, in denen das Einstimmigkeitsprinzip gilt, muss durch die hemmungslose Anwendung des Vetos dieser Militärpakt gelähmt werden. Nur durch die Blockade der NATO bei gleichzeitiger Aufwertung der OSZE zu einem echten Sicherheitskollektiv kann dauerhaft die Sicherheitslage in Europa unter Einschluss Russlands, Weißrusslands, der Ukraine und anderer post-sowjetische Staaten werden.
[1] James Ellison: Separated by the Atlantic – The British and de Gaulle, 1958–1967, in: Diplomacy & Statecraft, Jg. 17 (2006), Nr. 4, S. 853–870.
[2] Sotiris Rizas: Atlanticism and Europeanism in Greek foreign and security policy in the 1970s, in: Southeast European and Black Sea Studies, Jg. 8. Nr. 1 (2008), S. 51–66 (hier S. 52).
[3] Stephen S. Roberts: The Turkish Straits and Soviet Naval Operations, in: Navy International, Jg. 86 (1981), Nr. unbekannt, S. 581–585 (hier: S. 585).
[4] Otto Holman: Integrating Southern Europe – EC Expansion and the Transnationalization of Spain, London/New York 1996, S. 100–106.
[5] Aus unterschiedlichen Gründen traten Griechenland 1980, Spanien 1999 und Frankreich 2009 – in allen Fällen unter konservativ-atlantischen Regierungen – den militärischen Strukturen der NATO (wieder) bei.
[6] Donna J. Klick: A Balkan Nuclear Weapon-Free Zone: Viability of the Regime and Implications for Crisis Management, in: Journal of Peace Research, Jg. 24 (1987), Nr. 2, S. 111–124 (hier: S. 114).
[7] Christian Nuenlist: Dealing with the devil: NATO and Gaullist France, 1958–66, in: Journal of Transatlantic Studies, Jg. 9 (2011), Nr. 3, S. 220–231 (hier: S. 223).
[8] Paul Schäfer: US-Streitkräfte in Deutschland, Berlin 2008, S. 4.
[9] www.nato.int/cps/en/natolive/topics_49763.htm
[10] Hans Mouritzen: Denmark’s super Atlanticism, in: Journal of Transatlantic Studies, Jg. 5 (2007), Nr. 2, S. 155–167.
[11] Beispielsweise Polen: Kerry Longhurst: A Note on Polish Atlanticism on the Move, in: American Foreign Policy Interests, Jg. 30 (2008), Nr. 3, S. 136–143.